Mir ist bewusst, dass dieser Beitrag ein Spiel mit dem Feuer ist und dass ich wohl einigen Menschen auf die Füsse treten werde, vor allem in meinem eigenen Umfeld. Trotzdem sehe ich mich, wann immer möglich, in der Pflicht zur Offenheit und Transparenz. Höflichkeit und Harmonie mögen von mir gelebte Werte sein, trotzdem gibt es für mich wenig Unangenehmeres als einer künstlichen Rolle, einer gespielten Fassade zu verfallen, die ich überhaupt nicht mit mir vereinbaren kann. Daher der folgende Beitrag.
In den letzten Wochen, als meine Aufnahme für den Austausch bestätigt wurde, erfuhren auch meine geschätzten Mitmenschen davon. Entweder über meinen Blog oder persönlich. Ich erlebte viel Sympathie, man freute sich für mich und gratulierte mir. Besonders die Art meiner Hinreise löste Erstaunen und Neugierde aus.
Schnell fielen Worte wie: „Super, dann kann ich dich ja mal besuchen kommen!“ Waren diese Gesten zur Zeit des potenziellen Austausches noch sehr unkonkret und von mir auch nur mässig berücksichtigt, so führen manche Leute nun schon die Dauer und Destinationen ihres geplanten Abstechers aus.
Dabei sollte zu erwähnen sein, dass diese Aussagen (soweit ich mich erinnere) immer als gefasster Entschluss formuliert wurden. Die Frage „Willst du, dass ich dich besuchen komme?“ wurde also direkt übersprungen.
Da hatte ich doch in den letzten Monaten noch mit aufwändiger Planung einen alternativen Weg ersonnen, um auf den omnipräsenten Flugverkehr zu verzichten und wieder ein realistisches Bild von der geografischen Distanz zu bekommen, die mich üblicherweise von Japan trennt. Schon kurze Zeit später fand ich mich in einer absurden Mathematik wieder: Mein Projekt mit dem eingesparten Interkontinentalflug löste durch den nach sich ziehenden Besucherandrang sechs (best case) bis vierzehn (worst case) weitere Interkontinentalflüge aus. Irgendetwas ist da massig schiefgelaufen.
Ist den Leuten entgangen, welche Gedanken ich mir dabei gemacht habe? Bin ich in einen Schwitzkasten der Sitten und Gepflogenheiten gerutscht? Sind Klimaerwärmung und Klimagerechtigkeit Themen, die zu gross und abstrakt sind, als dass sie das Individuum etwas angehen (selbst für jene, welche sich darüber echauffieren)?
Ich glaube, der schwierigste Ort, um fest zu seinen ideologischen Vorsätzen zu stehen, ist wohl der Bekanntenkreis. Persönliche Beziehungen und Interessen scheinen viele Vorsätze zu neutralisieren. Mir scheint sogar, Menschen bewundern zwar generell starke, ikonische Charaktere, die ihrem ideologischen Leitbild kompromisslos folgen, frage mich jedoch, wie gross wohl deren Akzeptanz dann auf privater Ebene sein würde.
Besonders kritisch wird es, wenn man in Gefahr läuft, eine eigentlich gut gemeinte Handlung abzulehnen oder sogar zu kritisieren. Wie zum Beispiel der liebe, nette Vegetarier, der es beim Familienessen nicht über die Lippen bringt, der Tante, die den Braten serviert, zu sagen, dass er das Abschlachten jeglicher Tiere abscheulich findet.
Ich bin mir also durchaus bewusst, dass in meinem Fall die Äusserungen alle gut gemeint waren und darauf abzielten, mir einen Gefallen zu tun.
Es mag ja auch sein, dass es dabei gar nicht um mich geht, sondern um das unbezwingliche Interesse an Japan selbst. Darum und in jedem Fall gilt: Es liegt nicht in meiner Befugnis, anderen Menschen vorzuschreiben, wo sie hinzugehen haben.
Mein Verdacht ist jedoch, dass in den meisten Fällen ich der Trigger bin, eine Aktivität zu unternehmen, die sowieso schon lange auf der Liste steht. Eine Liste (jeder und jede kennt sie), auf der sich hunderte von interessanten Orten und Aktivitäten wiederfinden, die einen besonderen Reiz ausstrahlen. Zufälligerweise entsteht hier ein gemeinsamer Nenner mit einer befreundeten Person. Vielleicht kommt diese Chance so nie wieder vor. Darum nichts wie los!
Wie nachvollziehbar das Ganze ist, so ernüchternd ist es auch:
Mein eigenes Interesse und die Auseinandersetzung damit haben also niemanden dazu inspiriert, eine neue Sprache zu lernen, für mehrere Jahre nach Japan zu ziehen oder ein Jahr lang per Autostopp um die Welt zu reisen. Man könnte es eher so formulieren: Ich bin zum Sprungbrett mutiert für standardisierte Kurzferiendestinationen in der arbeitsfreien Zeit. Etwas Exotik für die Abwechslung. Und das fühlt sich wahrlich nicht inspirierend an.
Aber es ist nicht mein Ziel, den Leuchtturm zu spielen. Mir geht es alleine darum aus dieser Spirale der Absurdität auszubrechen. Deshalb möchte ich hier meine Punkte nochmals klar darlegen:
(1) Im ersten Punkt versuche ich mich kurz zu fassen; denn hier geht es um ein ganzes Gefüge an Umständen. Tief darin begraben liegen die zahllos gesammelten Begegnungen mit der Ignoranz, mit der ich mich tagtäglich herumzuschlagen habe. An mich herangetragen, von Leuten, denen man das Lebensmotto „Solange es mir gut geht, ist für alle gesorgt.“ deutlich ansieht und die auch oft und gerne meinen: „Ich kann sowieso nichts ändern.“
Ich versuche, mich möglichst dieser desillusionierenden Spirale entreissen, in der diese Menschen stecken. Sie gilt für mich als Negativbeispiel und als Verhöhnung aller Menschen, die ihr Leben dafür aufwenden, über Missstände zu informieren, die Welt zu verbessern und anderen zu helfen.
Als Auswuchs dieser Ignoranz, dessen Abstufungen subtiler nicht sein könnten, glaube ich das Ausblenden von grossen Problemen wiederzutreffen. So auch der menschengemachte Klimawandel, der nun wirklich kein neumodischer, esoterischer Hype ist. Die Beobachtungen dazu gibt es seit den 70er Jahren und Massnahmenpläne dagegen seit meiner Geburt. Die Thematik ist uralt und eigentlich jedem bekannt. (Wie auch die Auswirkungen des Jetsettens.) Und doch scheint sich das allgemeine Verhalten in diesem festgefahrenen System kaum zu verändern.
Wer aber, wenn nicht wir in der westlichen Welt des Überflusses soll sich dieser Probleme annehmen? Wenn nicht wir, dann ist die Vermutung, dass sich die Menschheit zweifelsfrei in den selbstverschuldeten Untergang reisst, nicht mehr von der Hand zu weisen.
Mich ereilt stattdessen der Eindruck, dass unser globales Jahrhundertproblem von Seiten der Firmen und Regierungen nicht mehr als Marketing oder Image-Aufwertung für den eigenen Bedarf zu sein scheint. Auf der privaten Ebene unserer hochvernetzten Gesellschaft dann wiederum nur ein stillgeschwiegenes Tabu.
Mir widerstrebt es zutiefst, ein Teil dieses Systems zu sein. Mein Gewissen beisst mir beim Gedanken daran in den Hintern und ich sehe mich in der Pflicht, meinen freien Willen und dessen Vernunft dafür aufzuwenden, mich über kritische Angelegenheiten zu informieren und mein Handeln darauf auszurichten. In einer Welt der Informationsflut ist das zugegebenermassen nicht immer einfach. Aber machbar.
Es ist ein Irrtum, anzunehmen, dass dies automatisch den Verlust von „Spass“ bedeutet. Selbst wenn, wäre es nicht weiter schlimm. Denn unsere Leidensfähigkeit, geschweige denn unsere Bescheidenheit, scheint, verglichen mit den vorhergehenden Generationen, so winzig zu sein, wie noch nie. Der Luxus, selbst zu entscheiden, wie ausbeuterisch wir uns unserem Planeten gegenüber verhalten, wird wohl sowieso nur von kurzer Dauer sein.
Diese Weltsicht mag zu belehrend wirken, doch es geht um einen Massstab, dem ich selbst nacheile. In der Abwägung der Verhältnismässigkeit – zwischen eigenen und allgemeinen Interessen – habe ich also lange mit mir gehadert, mit welchem Kompromiss ich mir meinen Lebenstraum doch noch erfüllen kann. Der akzeptierbare Status Quo steht nun – und ich glaube dahinter stehen zu können. Das heisst jedoch, dass ich diese Maxime nicht nur für mich, sondern auch für die Handlungen meines Umfeldes, die mich selbst betreffen, vertreten werde.
(2) Ich nehme mir das Recht, meine eigenen Bedürfnisse darzulegen:
Ich werde in einem Austauschstudium sein, das mich fest ins folgende Semester einbindet. Ich werde regelmässig Schulunterricht haben. Ich werde an den Ort gebunden sein. Ich werde viele neue soziale Kontakte treffen und aufrechterhalten. Ich werde mich sprachlich vertiefen und versuchen meine Zeit dafür aufzuwenden, alles zu lernen, was ich noch nicht verstehe. Ich möchte mich von Altem loslösen, um mich selbst in einer neuen Lebenssituation aufs Neue kennenzulernen. Ich will in die Kultur und Umgebung eintauchen, frei, nahtlos und ohne Unterbrüche.
Folglich ist mein Bedürfnis nach Besuch gering. Ich werde diese schnell vergängliche Zeit gut überstehen, ohne jeden Monat einem altbekannten Gesicht zu begegnen.
Darum: Ich verzichte in der Zeit meines Austausches gerne auf ausländischen Besuch*.
*Vor allem von Leuten, die ich selbst hier über Monate nicht zu Gesicht bekomme. Kommt mich doch besuchen, solange ich noch in der Schweiz bin. Ich habe Zeit.